Weihnachten – nicht cringe, sondern lit
Monika Lexa
Monika Lexa
„Ich verstehe meine Kinder einfach nicht mehr!“ Meine Freundin, die ich seit unseren Tagen im Kindergarten kenne, seufzt und schaut mich verzweifelt an. Ich bin mir nicht sicher, was sie meint: Versteht sie ihre Kinder nicht, weil sie komisch sprechen, oder versteht sie sie nicht, weil sie mitten in der Pubertät sind? Wahrscheinlich beides, denk ich mir und frag mich, was sie jetzt eigentlich von mir will. Ich hab keine Kinder, kann ihr bei dem Problem also so gar nicht helfen.
Noch bevor ich meine Gedanken laut aussprechen kann, fährt sie fort: „Julia schwankt im Sekundentakt zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Warum, das sagt sie nicht, weil sie meint, wir Alten verstehen sie ja eh nicht. Und Julian wohnt quasi auf seinem Computersessel und bewegt sich nur weg, wenn ich ihn in die Schule jage oder unter die Dusche.“
Ich nicke, um Verständnis zu suggerieren. Insgeheim denk ich mir: Genau deswegen habe ich keine Kinder. Die kleinen G’fraster machen doch nur Ärger, von Anfang an!
„Und wie sie reden!“ Juliane plappert munter weiter. Ihr Gesicht ist gerötet und ich weiß, aus Erfahrung, dass sie so schnell nicht aufhören wird. Verständlich, denk ich mir, sie muss das ja irgendwo loswerden.
Ihr Mann ist ja keine große Hilfe. War er noch nie. Er ist quasi Kind Nummer drei. Nur, dass er die Jugendsprache nicht kann. Auch, wenn er es immer versucht. Was nur dazu führt, dass die Kinder „Du bist so peinlich, Papa!“ schreiend davonlaufen.
„Lit, sus, shady, cringe. Das hör ich die ganze Zeit und versteh’s noch immer nicht“, erklärt mir Juliane. Ich muss ihr rechtgeben: Die Sprache der aktuellen Jugend ist auch für mich eine Katastrophe. Bei uns damals waren’s wenigstens nur „ur“ und „cool“ und „geil“ oder eben in Kombination: ur cool, ur geil. Und das hat unsere Eltern und die Lehrer:innen schon auf die Palme gebracht. Wenn die und wir damals gewusst hätten, was da mal auf uns zukommen würde. Ganz besonders schlimm finde ich persönlich ja „Digga“. Möglicherweise meinen die lieben Kinderlein ja „Dicker“, aber aussprechen tun sie’s halt mit Doppel-g. Muss man nicht verstehen.
Eine gefühlte Ewigkeit später weiß ich alles von Julias und Julians Pubertätschaos. Nüchtern betrachtet, das Übliche: Julias Stimmungsschwankungen haben viel mit irgendwelchen Burschen zu tun; sie verliebt sich halt heute in den einen und morgen in den anderen und der Erste ist da schon wieder doof. Oder wie auch immer sie es beschreiben würde. Cringe vielleicht, ich weiß es nicht.
Julian spielt eben nur noch Computer und sieht seine Freunde, außer in der Schule, nur noch online. Andererseits: Er hat wenigstens Freunde. Könnte also noch schlimmer sein. Ich bin schon versucht, Juliane genau das zu sagen, da geht es schon weiter: „Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich komm mir so alt vor!“, sagt sie und schaut mich so richtig verzweifelt an mit ihren hellblauen Augen, die mir ein bisschen wässrig erscheinen. Dabei zieht sie einen Schmollmund, so wie damals, als wir im Alter ihrer Kinder waren.
Ich nicke, mal wieder, zustimmend. „Wir sind alt!“, sage ich mit einem Grinsen im Gesicht, um die Stimmung aufzulockern. Juliane kommen die Tränen. Das hat wohl nicht so gut funktioniert.
Also ändere ich meine Strategie: „Komm, so alt sind wir auch noch nicht. Außerdem, möchtest du wieder 15 sein? 16? 17? Mitten im Gefühlschaos, absolut unzufrieden mit dir selbst, quasi unzurechnungsfähig? Alles ist ein Riesenproblem, ständig pfuschen dir die Hormone rein und niemand versteht dich! Alle sagen dir nur, dass du ja eh keine Probleme hast, dass du eh nur in die Schule gehen und ein bisschen lernen musst. Und das Schlimmste: Du verstehst dich ja selbst nicht. Und du kannst nix dagegen tun. Außer abzuwarten, dass sich dein präfrontaler Cortex endlich fertig entwickelt und deine Hormone sich wieder einkriegen.“
Juliane schaut mich an, auf ihrem Gesicht zeichnen sich Fragezeichen ab. Nur sprichwörtlich, natürlich.
„Kannst du dich nicht erinnern? Wir waren doch nicht anders: Die Eltern waren doof; der Typ, der gestern noch ur geil war, war am nächsten Tag ein Idiot, und wir selbst waren gefangen zwischen dem Verlangen, ur cool zu sein, und dem Problem, dass unsere Emotionen uns im Griff hatten und nicht umgekehrt. Ich mein, erinner dich nur an meinen Crush auf die Turntante.“
Nun muss Juliane grinsen. Das war ja wohl wirklich das Sinnbild der pubertären Verstörung. „Du hast ja recht“, sagt sie. „Es ist mir nur manchmal zu viel. Du kannst das anders sehen, weil du mehr Abstand hast. Und darauf bin ich eifersüchtig. Weil du den Abstand hast. Und weil meine Kinder dich viel cooler finden als mich. Oder wie auch immer sie dazu sagen würden.“
Ja, coole Tante kann ich. Oder halt fly Tante. Wie auch immer.
„Sag!“, sagt Juliane. Mir schwant fürchterliches. Was kommt da jetzt? Das ist sus, das weiß sogar ich! „Wie wär’s, wenn du mit uns in den Weihnachtsurlaub fährst? Wir haben vom 23.12. bis über Silvester eine Hütte am Arsch der Welt gemietet. Absolute Schnapsidee mit zwei Pubertieren. Aber du, du verstehst sie. Mit dir reden sie mehr als mit mir. Und wir zwei könnten mit ein paar Schnapserln unsere Jugend auch wieder auferstehen lassen. Der Mann soll kochen. Was sagst du?“
Ich schlucke. So lange mit der verrückten Familie unter einem Dach? Na bitte, das ist doch cringe. Oder eigentlich nicht. Ich, als ewiger Single, ohne Kinder, ohne wirkliche Verwandte, hasse Weihnachten allein schon deswegen, weil ich niemanden hab, mit dem ich feiern kann. Bei Juliane wollte ich mich nie aufdrängen. Aber es sieht so aus, als wär es gar kein Aufdrängen, sondern eine Rettung. Für alle.
„Weißt du was?“, sag ich. „Das find ich absolut lit!“
Wörterbuch für alle, die in etwa meine Generation sind:
cringe = peinlich (im Sinne vom Fremdschämen)
lit = cool
sus = verdächtig oder zwielichtig
shady = verdächtig oder zwielichtig
Digga = Kumpel
fly = cool
Monika Lexa ist Autorin, Lehrgangsleiterin der Ghostwriting Academy sowie von Mind Over Matter – Lehrgang für Mental- und Resilienztraining in Wien.